angelika benje, was man braucht (2023)


Es tönt eine Musik im Kopf beim Anblick dieser Hauswände in greller Sonne, vielleicht eine Geige, die einfache, helle Tonfolgen spielt, darunter ein Basso continuo langer, dunkler Cello-Striche, aber sehr dezent. Langsam führt die besondere Stimmung auf den Fotos zu verschütteten Erinnerungen an die Sommerferien bei der Großmutter in einem mittelfränkischen Dorf. Die Äcker steinig, die wortkargen Menschen hauptsächlich in den Kalksteinbrüchen beschäftigt, die Häuser wie auf den Fotos. Wenn am Sonntag alle nach dem Mittagessen schliefen und die Langeweile durch die sommerlichen Straßen trieb, brannten sich unbemerkt Bilder ein, die hier nun wieder heraufgerufen werden.

 

Alle drei „Lichtbilder“ scheinen in der Mittagssonne aufgenommen, die kurzen Schatten deuten darauf hin. Dieses Licht ist gleißend, was die leichte Tristesse des vorherrschenden Graus der lieblos verputzten, fleckigen oder schadhaften Hauswände, des Garagentors oder der Böden unterstreicht. Die Natur spielt eher keine Rolle, mal ist ein Streifen Grün zu sehen oder ein paar Wild-pflanzen, mal einige verdorrte Stängel in Blumentöpfen, wahrscheinlich die Reste von Zierpflanzen des letzten Sommers.

„In die engen Höfe liebelt / nur ein winzig Stückchen Himmel“, dichtet Rilke und auch hier lugt nur einmal ein bisschen blauer Himmel hervor, auf den anderen beiden Fotos sieht man seine Spiegelung allein in den Fenstern, alles äußerst funktional, bar jeder Schönheit. Alles ordentlich, aber für jegliche Ästhetik fehlt es an Zeit, Bewusstsein und wohl auch Geld.

Das könnte in eine leichte depressive Verstimmung führen, aber da ist die Farbgebung aller drei Fotos: sehr reduziert zwar - Grautöne, Blau, etwas Rot- und Grün-Akzente, viel mehr ist da nicht – aber eine Harmonie wie das Produkt eines himmlischen Farbpaletten-Generators. Und da ist weiter eine große Klarheit. Das Licht und die kurzen Schatten lassen nichts im Verborgenen. Schlichte horizontale und vertikale Linien prägen die Gestaltung. Die dritte Dimension erreicht die Fotografin durch die scharf kontrastierten Schattenwürfe, auf einer Aufnahme auch durch Raumdiagonalen. Große Zweckmäßigkeit charakterisiert die sichtbaren Gebäudeteile. Nur ein ins Bild ragendes Dach aus Eternitplatten hat etwas ganz leicht Verspieltes, wobei die zwei Reihen von quadratischen und auf den Winkel gestellten Platten das Fotoformat aufnehmen.

 

Das Quadrat erlaubt hier die Reduktion auf das Wesentliche. Fotografisch nimmt es die Anmutung des Polaroid-Fotos auf, des schnellen Gelegenheitsfotos, das nicht den Anspruch exquisiter künstlerischer Gestaltung hat, sondern den Moment festzuhalten versucht. Unterstützt wird dieser Sofortbild-Eindruck durch die scheinbare Überbelichtung, wie sie so typisch für die Aufnahmen mit den billigen Polaroid-Kameras war. Dadurch wird mit der Raum-Zeit-Flash in die 60er-Jahre subtil potenziert.

 

Man muss Mut haben, solche Aufnahmen zu machen und ein sicheres Gefühl für Farben, Gestaltung, Architektur und vor allem Stimmungen. Denn zur „Blauen Stunde“ kann jeder, doch „Zwölf Uhr mittags“ schlägt die Stunde der Entscheidung, wie wir wissen.

Wir sehen das grelle Licht und die grauen Wände, die man auf manchen Gemälden Edward Hoppers findet. Apropos „Zwölf Uhr mittags“: "Where is Frank?" ist auch hier eine berechtigte Frage, denn alle Bilder sind menschenleer.

 

Doch immer gibt es etwas, was an die Menschen in diesen Häusern erinnert, denn der Blick wird so auf die spärlich vorhandenen Gegenstände gelenkt, die übrigens alle sehr abseits stehen, also nicht aufdringlich prominent an die üblichen Stellen der Aufmerksamkeitslenkung bei Fotos gestellt gerückt sind. Es sind Gebrauchsgegenstände und „Was man braucht“ ist der Titel aller Aufnahmen. Und was braucht man? Einen Handrasenmäher ältester Provenienz, eine Schaufel. Und Stühle, aber nicht die allerneusten. Der klassische Klapp-Gartenstuhl scheint eher für die kurze Zigarettenpause in der Sonne gedacht und das Schild mit der Aufschrift „Privat“ wirkt wie der Wächter dieser Ruhe. Die drei Drehstühle stehen vielleicht für das gemütliche Gespräch mit der Familie oder Nachbarn in der Abendsonne nebeneinander. Dorfidylle. Fände sich eine entsprechende Beschreibung in einem Roman, wirkte das kitschig. Der Rasenmäher deutet darauf hin, dass hier keine große Wiese zu mähen ist. Der alte Kohleofen scheint hier seinem Ruhestand entgegenzudämmern, vielleicht soll ihn der auch nicht gerade moderne Öl-Ofen ersetzen. „Was man braucht“ ist ein wunderbarer Titel, ein Bekenntnis zum Einfachen, zum Schlichten, zum Genügsamen, zur Liebe zu den Dingen, zu dem, was man eigentlich braucht. Hinterrücks schleicht sich ein seltsamer Wunsch ein, die eigene Welt vom Ballast zu befreien und sich der Frage zu stellen: Was brauche ich eigentlich?

 

Der Lyriker Günter Eich veröffentlichte 1947 das Gedicht „Inventur“, in dem er seine Besitztümer im Kriegsgefangenenlager aufzählt: seine Mütze, seinen Mantel, das Rasierzeug, eine Konservenbüchse, die als Teller und Becher dienen muss, einen „kostbaren Nagel“, ein Paar wollene Socken, eine Pappe, auf der er schläft, die Bleistiftmine, um seine Verse aufzuschreiben, sein Notizbuch, eine Zeltbahn, ein Handtuch, Zwirn. Nicht mehr. So wertvoll. "Habseligkeiten". Ein Wort, in dem so viel mitschwingt. Zu Recht wählte es 2010 eine Jury nach einem Wettbewerb des Deutschen Sprachrats mit über 22.000 Einsendungen zum „schönsten deutschen Wort“. Das zweitschönste Wort war "Geborgenheit", auf den dritten Platz kam "lieben".

 

Beim Betrachten der Fotos kommen die drei Worte wie ein Dreiklang in den Sinn: Habseligkeiten – Geborgenheit – lieben. Und wie Obertöne schwingen Begriffe mit wie „Gemütlichkeit", "Sehnsucht", "Heimat", "Frieden" und "Sonnenschein" – allesamt unter die ersten zehn schönsten deutschen Wörter gewählt. Die Geige wird leiser, das Cello laut und warm.

 

Vilém Flusser schreibt in „Für eine Philosophie der Fotografie“: „Auf ein Minimum reduziert, ist die Absicht des Fotografen diese: Erstens, seine Begriffe von der Welt in Bilder zu verschlüsseln. Zweitens, sich dabei eines Fotoapparats zu bedienen. Drittens, die so entstandenen Bilder anderen zu zeigen, damit sie ihnen als Modelle für ihr Erleben, Erkennen, Werten und Handeln dienen mögen.“

Danke für diese Dienste,

 

MCM