jürgen quensel, spielwiese ... für die phantasie (2025)


andre, unter wolken (2025)


Ein „surreales Kunstwerk, das irgendwo zwischen NASA-Aufnahme und abstraktem Traum schwebt“, eine „bizarre Eislandschaft“ oder „eiskalte Polarlandschaft“ – so der Tenor der Kommentare zu Jürgen Quensels „Spielwiese... für die Phantasie“. Blau ist der durchgängige Farbton dieses... ja, was eigentlich? Kein Foto, sondern ein Scan, klärt uns der Künstler auf, der Scan einer Aluminium-Druckplatte, 50 Jahre alt und ursprünglich verworfen wegen einer misslungenen Sonne – so Quensels undeutliche Erinnerung. Die Farben kommen „durch das Zusammenspiel des recht weißen Scannerlichts“ mit „der Reflexion der Platte und dem scannerinternen Weißabgleich“ zustande.

 

Im Hintergund ein blauer Himmel mit diffuser Bewölkung, die Mitte durchzieht eine Hügelkette, den Vordergrund scheint eine teilweise schon ins Grünliche changierende Eisdecke eines Sees einzunehmen, auf der sich im rechten und linken Teil die Wolken spiegeln. Dunkelblau-schwarz beherrscht ein Kreis das rechte obere Eck, durch die dreidimensionale Erscheinungsform noch auffälliger, fast als läge ein Kronkorken auf der Platte, außen herum einige pickelige schwarze Sprenkel – die schon zitierte „misslungene Sonne“. Zentral großen Raum nimmt eine geometrische Form ein, ein gitterartiges, durchsichtiges Prisma, fremd in der natürlichen Umgebung und dadurch unheimlich; wie eine Erscheinung aus den Erzählungen Lovecrafts oder Poe’s „Arthur Gordon Pym“. „Space-Odyssee auf Alu“ kommentiert jemand.

 

Seltsamerweise geht in den Kommentaren niemand expliziter auf diese Form ein und auch nicht auf die vier etwas mittig links zu sehenden, kleinen weißen Objekte, deren Form an Kakteen erinnert, die einen Schatten werfen – der Sonnenstand erlaubt diese Interpretation. War das ursprünglich gar keine Eis-, sondern eine Wüstenlandschaft, vielleicht inspiriert von Michael Heizer’s verrücktem Projekt „City“ in der Wüste Nevadas, an dem er seit 50 Jahren baut? Wie nah sind sich doch diese extremen Landschaften aus Wüste und Hitze oder Eis und Kälte! Der Begriff „minimalistisch“ fällt. Und mittendrin dieses offensichtlich menschgemachte Objekt als Zeichen des Vordringens unserer Spezies in die noch so lebenswidrigsten Bereiche, möglich nur mit Hilfe der Technik.

 

Ebenso menschenleer ist Andres schwarz-weißes „unter Wolken“ , in anderer Form nochmal veröffentlicht als „- Winterzaun*-“, im unteren Drittel besagter Zaun, der sich in anmutigem Bogen nach rechts über eine verschneite Erhebung schwingt, um in der Ferne zu verschwinden. Darüber die Silhouetten von ein paar großen Vögeln vor dem grauen Winterhimmel, der den größten Raum einnimmt und vom Boden nur durch den Zaun geschieden wird. Hinter dem Zaun ein paar Gräser. Mehr ist da nicht. Für das Bild wurde ein weißer Rahmen gewählt, für alle vier Ecken eine dunkle Vignettierung, auffällig sind ein paar Falten im Fotopapier, die eventuell vom Aufkleben auf eine Platte rühren, was hieße, dass das Ganze noch einmal abfotografiert wurde. Alles in allem ein sorgfältig komponiertes Bild, das in bewährter High-Key-Bearbeitung eine wunderbare Stimmung von winterlicher Weite vermittelt und die Betrachtenden in dem schönen Gegensatz der starren Struktur des Zauns und des bewegten Vogelflugs in die Ferne mitnimmt. (Interessant dazu auch das Interview im Galerie-Freitag-Beitrag zur Landschaftsfotografie vom August 2025.)

 

Dasselbe Motiv verwendet Andre nun für ein gänzlich anderes Werk. Das Ausgangsfoto ist dasselbe, allerdings viel kontrastärmer, wodurch der Zaun weniger prägnant ist und am Himmel deutliche Wolken sichtbar werden. Hier könnte es sich sogar um eine Dünenlandschaft im Sommer handeln, zumal der Vordergrund nun eine starke „Körnigkeit aufweist, die sich rechts bis in den Himmel zieht.  Gewählt wurde das quadratische Format. Das Auffälligste ist aber die obere Hälfte, bei der das Papier offensichtlich zerknittert wurde, wodurch der (hineinmontierte?) Wolkenhimmel plastisch und verstärkt erscheint. Am oberen Rand scheint das Blatt auf ein paar Zentimeter umgefaltet, dahinter setzt sich das Bild mit einem weiteren Stück Himmel seltsamerweise fort. Auf den Prozess weist der Künstler selbst hin: „collage montage digiart eigene bilder ausgedruckt zerknittert abfotografiert digital foto komposition kunst“. Wird in „- Winterzaun*-“ eher das Minimalistische und die Stimmung gelobt, ist es hier das Kreative, das Künstlerische, Traumhafte, die Wirkung hervorgehoben.

 

Wie kam es wohl zu dieser Bearbeitung. Ich stelle mir vor, dass Andre einen Probeausdruck gemacht hat und dann feststellt, dass der Kontrast zu flau ist. Flugs zerknüllt er das Papier, doch halt, nochmal überprüft! Oh, ein erstaunlicher Effekt. Dann überlegt er, wie man diese Phase weiterbearbeiten könnte, fotografiert das Ganze ab, bearbeitet es digital und analog, verändert den Bildausschnitt und aus einem zufälligen Ereignis entsteht im kreativen Prozess etwas faszinierend Neues, Anderes, Künstliches. Wie bei Jürgen Quensel, der ja einen ganz ähnlichen work flow schildert. Zufall, Aufmerksamkeit und künstlerisches Gefühl, Mühe und Arbeit, Konzentration und Knowhow führen zu einem Ergebnis, von dem Quensel meint, es gefalle ihm „ungemein, aber das kann vielleicht niemand nachempfinden“. Oh doch! Das zeigen auch die Kommentare: Etwas berührt uns und löst Gefühle, Erinnerungen, synästhetische Schwingungen, den Eindruck künstlerischer Stimmigkeit und vieles mehr aus.

 

Was nun beide Werke gemeinsam haben, ist die Fortführung der Bearbeitung an der Schnittstelle von Analogem und Digitalem. Bei beiden haben wir ein Ausgangswerk, eine Alu-Druckplatte bzw. einen Fotoausdruck, die aber nur die Grundlage für ein Weiter wurden. Mit dem etwas abgenudelten (aber deshalb nicht weniger wichtigen) Begriff der benjaminschen „Aura“ müssen wir uns hier nicht auseinandersetzen, denn Druck, Scan, Ausdruck, digitale Bearbeitung haben sich der Aura in diesem Sinne ja schon entledigt. Interessant aber scheint mir, dass beiden Künstlern die Auffassung eines Kunstwerks als etwas prinzipiell Unvollendetem zugrunde liegt, ganz entgegen dem naiven Werbespruch der ersten Kodak-Kamera von 1888: „You Press the Button, We Do the Rest“. Statt des treuherzigen „was man schwarz auf weiß besitzt,/Kann man getrost nach Hause tragen“ ist hier das Bekenntnis zum Spielerischen und zum „Anything goes“ zu erkennen. Quensel spielt damit, dass der Impressionismus, ursprünglich stark beeinflusst von der Fotografie, wieder auf die Fotografie zurückwirkt, und zitiert mit seinem Prisma-Gestell surrealistische Einflüsse wie Tanguy. Auch bei Andre ist eine surrealistische Grundlage nicht zu übersehen mit einem zum Beispiel an Magritte erinnernden Trompe-l’œil-Effekt – die Stimmung des „Winterzaun“-Fotos fehlt hier völlig zugunsten des Überraschungseffekts der plastischen Wirkung der Papierstruktur. Und beide Arbeiten zeigen, wie das Auge gerne verführerischen Gewohnheiten folgt und eine Winterlandschaft sieht, wo man genauso gut eine sommerliche Szenerie entdecken könnte.

 

Was beide Schaffenden offensichtlich antreibt, ist ihr Anspruch, das Sehen zu erweitern. Denn das „fotografische Sehen muss unentwegt durch neue thematische oder technische Schocks erneuert werden, um den Eindruck des Bruchs mit dem gewöhnlichen Sehen zu vermitteln. Denn herausgefordert durch die Offenbarungen der Fotografen, hat das Sehen die Tendenz, sich den Fotografien anzupassen“ (Susan Sontag). In diesem Sinne ist allen zu danken, die uns der süßen Mutterbrust gefälligen Fotografierens und bequemen Sehens entwöhnen.

 

 

mcm