eva b., gedanken eingesperrt I & II (2025)


Es ist dieser intensive Blick. Die Augen scheinen ihr Gegenüber zu beobachten und zu fixieren, doch bei längerem Betrachten kippt etwas wie in einem Vexierbild – plötzlich sehen diese Augen durch das Gegenüber hindurch, der Blick geht einmal um die Welt und kehrt in sich selbst zurück. Aber das ist nicht der völlig abwesende Ausdruck von Luc Delahayes „L’Autre“ in den heimlich aufgenommenen Fotos von Menschen in der Pariser Metro. Der Blick bleibt vielmehr im Irgendwo zwischen Innen und Außen. Von „Mimik“ im eigentlichen Sinn mag man nicht sprechen. Es ist eher der Blick in den Spiegel, der in die innere Selbstreflexion übergeht. Doch da ist kein Spiegel, das Gegenüber ist die Kamera.

 

Dieser Eindruck wird verstärkt durch den Gesichtsausdruck der en face Abgebildeten, der gelöst ist, während der Mund etwas angespannt wirkt. Tiefe schwarze Schatten konturieren die schon schmalen Züge und machen sie auf beiden Seiten noch schmäler – eine Variation der Rembrandt-Beleuchtung. Der Hintergrund versinkt im Dunkel, das Gesicht ist von einem schonungslosen frontalen Licht erfasst, das die linke Gesichtshälfte bis zur Konturlosigkeit ausleuchtet, rechts ist der Kontrast etwas stärker und man erkennt sogar die Hautstruktur.

 

Durch den Chiaroscuro-Effekt ergibt sich eine ungeheure Intensität, die noch gesteigert wird, wenn man sich von dem Gesicht endlich lösen kann, welches gut das linke untere Viertel des Schwarz-Weiß-Fotos von Eva B. einnimmt. Nun kann sich der Blick der oberen Hälfte des Fotos zuwenden: Die Stirn wird in einer Fotomontage überdeckt von einer dicken Scheibe eines Baumstamms, dessen Jahresringe tiefe Risse spalten. Das könnte, in der Tradition des Surrealismus, Lautréamonts oft zitiertes plötzliches „rencontre fortuite sur une table de dissection d'une machine à coudre et d'un parapluie" sein, aus der Schönheit entsteht. Aber der Titel „Gedanken eingesperrt“ weist eher auf eine symbolistische Absicht hin, die Assoziation des Begriffs Baum/Holz mit dem Begriff Hirnrinde drängt sich auf, dem menschlichen Teil unseres Gehirns, Sitz der Persönlichkeit und des Bewusstseins, Ort der komplexeren Denkvorgänge. Die Risse sind entstanden durch den Druck der über Jahre fest eingesperrten Gedanken, die anfangen, sich einen Weg heraus zu bahnen. Damit beginnt eine Öffnung zum betrachtenden Gegenüber – ein mutiger Schritt, denn die Öffnung ist einseitig, eine Kommunikation kommt erst einmal nicht zustande. Wie der Betrachter mit dem Bild in Beziehung tritt, bleibt unkontrollierbar und unumkehrbar. Gibt es mehr offenbarte Verletzlichkeit in einer Fotografie?

 

Noch interessanter wird es, wenn die Neugierde in das Portfolio der Fotografin treibt. Man findet überrascht gleich anschließend die Version „Gedanken eingesperrt II“, die sich durch eine ins Blau-Lila-Violett changierende Einfärbung der Baumscheibe unterscheidet. Die leichte Kolorierung des Gesichts spielt kaum eine Rolle in der Wahrnehmung. Weshalb hat die Fotografin diese zweite Version angefügt? Da das Holz nicht in seinem natürlichen Braunton erscheint, muss man von der Absicht ausgehen dass Eva B. dadurch eine Stimmung vermitteln will. Wenn sich der Eindruck von Farben auch zum Teil individuell unterscheidet, bleibt doch immer ein kultureller Einfluss bestehen. Goethe „fühlt“ in seiner Farbenlehre „das Blau als eine Farbe, die eine eigentümlich ernste, fast melancholische Wirkung hat.“ Das Blau geht bei der Annäherung an das Gesicht in die rötlicheren Lila-Violett-Bereiche über und will man Goethe weiter folgen, so assoziiert er damit Unruhe, Emotionalität, Herausforderung bis hin zur Überforderung. In diesem Teil verbreitert sich auch der Riss im Holz dramatisch. Und plötzlich wendet sich der Blick der Frau eindeutig nach außen.

 

Dieses Erforschen der unterschiedlichen Wirkung von Schwarz-Weiß und Farbe findet sich unter den Bildern von Eva B. häufiger. Auch das Gesicht von „Gedanken eingesperrt“ oder ähnlich gestaltete Portraits finden sich in ihrem Werk immer wieder. In den Fotografien über die Jahre ergibt sich ein sehr intimer Blick in ein Leben, oft Chiaroscuro, aber manchmal kann die Farbe durchdringen. Immer wiederkehrende Selbstportraits als Versuch des Selbsterkennens sind nicht selten in der Kunst, man denke an Richard Gerstl, Frida Kahlo, Warhol, Dalí. Gisèle Freund, die große Porträtistin, merkt jedoch an, „dass wir unsere Züge nie kennenlernen werden. Wir sehen uns immer spiegelverkehrt und erschaffen uns irreale Portraits, da wir vor den anderen eine Rolle spielen und uns schützen wollen.“ Oder wie die Schriftstellerin Mascha Kaléko es ausdrückte:

 

 

Ich sah in den Spiegel – erschrak.
Das war ich?
Das bin ich?
Ich war doch anders...

 

Eva B. versucht der Person Eva B. auf den Fotos näherzukommen – durch Variationen, durch Symbole, durch das Spiel mit Farbe und Nicht-Farbigkeit, vielleicht sogar durch die Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch. Das ist der radikale Gegenentwurf zum Selfie. Und dann teilt sie ihre Erfahrungen mit anderen, die sie reflektieren - die vielen, oft sehr persönlichen Kommentare zeigen die Faszination, die die Fotos ausüben, und das Bedürfnis, die Einladung zur Kommunikation anzunehmen. Sie sind sicher auch ein Danke an das Vertrauen, das die Künstlerin den Betrachtern schenkt, wenn sie sich durch ihre Augen in ihre Welt begeben.

 

VON DUNKEL ZU DUNKEL

 

Du schlugst die Augen auf – ich seh mein Dunkel leben.

Ich seh ihm auf den Grund:

Auch da ists mein und lebt.

 

Setzt solches über? Und erwacht dabei?

Wes Licht folgt auf dem Fuß mir,

daß sich ein Ferge fand?

 

(Paul Celan 1954)

 

MCM