claudia huss, che in santa clara (2023)


Auf den ersten Blick ein Reisefoto, schnell geknipst. Interessant durch die allbekannten Signale der Billigreiseländer – das Abgeblätterte, die alten einfachen Büromöbel jenseits aller Vintage-Begeisterung, die 110-Volt-Steckdose, die improvisierten Fahrplanhinweise, das Plakat mit den aus der Zeit gefallenen Zügen und Wagons an der Wand, die Pastellfarben des Südens. Nur die Corona-Hygiene-Hinweise an der Tür lassen erkennen, dass es ein zeitgenössisches, sogar junges Foto ist.

 

Doch all das nimmt man entweder beiläufig-routiniert oder erst nach genauerer Betrachtung auf. Denn schnell wird der Blick durch die einen Spalt geöffnete Tür in ein kleines Bahnhofsbüro gelenkt. Unspektakulär, wenn nicht im gefühlsmäßigen Mittelpunkt – tatsächlich schneiden sich die Bilddiagonalen am rechten unteren Eck des Bildes - ein Foto wäre, das verwirrt: Ist das Fidel Castro? Ist dafür der Kopf nicht zu breit? Und wann hätte er denn so einen Mephisto-Haaransatz gehabt? Aber dann der Bart! Die Uniform-Jacke des Revolutionärs, machomäßig leicht aufgeknöpft! Und natürlich die Zigarre! Sofort schießen weitere Fidel-Fotos durch den Kopf. Bart, Zigarre und häufig noch die Guerilla-Kappe bilden eine ikonografische Dreifaltigkeit. Wie bei Chaplin Bart, Stock und Melone.

 

Also Fidel? Wirklich? Recherchiert man, findet man als Urheber des Fotos, aufgenommen 1964 in Havanna, den berühmten Celebrity-Fotografen Elliot Erwitt (mehr unter: https://www.huffpost.com/entry/the-portraits-of-elliot-e_n_6771062?ir=Arts ). Und es ist nicht Castro, sondern Ernesto „Che“ Guevara, 35 oder 36 Jahre alt. 1964, zur Zeit der Aufnahme, war sein Stern im politischen System bereits am Sinken, es war das Jahr des beginnenden Konflikts mit Castro, der ihn in die „Flucht“ aus Kuba, in den revolutionären Kampf in Afrika und Südamerika und schließlich in den Tod führte.

 

Warum finden wir in diesem Büro heute das Bild Che Guevaras von 1964 und nicht das von Fidel Castro? Warum nicht das des Staatspräsident Präsident Miguel Díaz-Canel? Nicht das Che-Foto des kubanischen Fotografen Alberto Korda von 1960, das unter dem Titel „Guerillero Heroico“ in aller Welt bekannt wurde und seitdem zur popkulturellen Attitüde verkommen ist? Was offenbart uns hier der Blick durch die Tür?

Die Nachricht, die Ewitts Foto damals transportieren sollte: Ich bin jung, stark, männlich, lässig, einer von euch, ihr könnt mir vertrauen, die Zukunft gehört uns und der Revolution.

 

 

Heute, in seinem räumlichen Kontext, erzählt uns dieses Foto viel über die Situation des ganzen Landes: die Armut, die Rückständigkeit und die Erinnerung an den jungen Che Guevara, an den Mann, der auf alle Privilegien im neuen Staat verzichtet hatte, an eine Hoffnung, die sich nicht erfüllt hat. Vielleicht auch an die Vorstellung, dass mit einem anderen Menschen alles ganz anders hätte kommen können.

 

Damit leistet Claudia Huss´ Bild das, was die große Foto-Porträtistin Gisèle Freund in der Auseinandersetzung mit Laszlo Moholy-Nagy, dem hellsichtigen Theoretiker der Fotografie, so formuliert:

„Der wahrhafte Photograph trägt eine große soziale Verantwortung. Er muss mit den technischen Mitteln arbeiten, die ihm zur Verfügung stehen. Diese Arbeit besteht in der exakten Wiedergabe der alltäglichen Dinge, ohne Verdrehung oder Verfälschung. Der Wert der Photographie darf nicht nur allein nach ästhetischen Gesichtspunkten bemessen werden, sondern sie muß auch nach der menschlichen und sozialen Intensität ihrer optischen Wiedergabe beurteilt werden. Die Photographie ist nicht nur ein Mittel zur Entdeckung der Realität. Die von der Kamera gesehene Natur ist anders als die Natur, die das menschliche Auge wahrnimmt. Doch die Kamera beeinflußt unsere Sehweise und schafft die neue Sicht.“

 

Das Foto von Claudia Huss schafft diese neue Sicht auf Kuba. Dabei bleibt es trotz des neugierigen Blickes durch die geöffnete Tür diskret. Die Fotografin versucht nicht die Erwartungen zu erfüllen, mit denen der Tourist in das Land kommt, das Wissen über Kuba, das wir alle zu haben glauben. Sie respektiert den tapferen Versuch, die Zivilisation trotz der Misere des Landes am Laufen zu halten. Sie ist vielleicht berührt von der Reminiszenz an die enttäuschten Hoffnungen. Sie zeigt nicht Oldtimer, Musiker oder bunt gekleidete Menschen. Keine Armutsszenen, keine Palmenstrände. Das Bild ist menschenleer, so menschenleer, wie es das Land mit seiner abnehmenden Bevölkerung langsam wird. Kein Voyeurismus, kein „Peeping Tom“ und kein „Fenster zum Hof“. Anders als der Film, wo der Betrachter hinter einer halboffenen Tür etwas erwartet, einen Schock, eine pikante Szene, eine Überraschung, ist beim Foto klar, dass es nicht mehr zu sehen geben wird. Wenn wir mehr wissen wollen, müssen wir uns anstrengen, die Geschichte weiterdenken, genau beobachten. Und dazu fordert diese Fotografie uns auf: genau zu sehen. Dann bemerkt man, dass sie perfekt ist, denn sie berührt uns in ihrer Sympathie für das Gesehene.

Es ist ohne einen einzigen Menschen ein menschliches Foto.

 

MCM